Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V.

Entdecken Ökologische Schieflage in der Pflanzenvielfalt Deutschlands

Forschung  Lebensräume 

Ökologische Schieflage in der Pflanzenvielfalt Deutschlands

Neue Studie im Fachjournal „nature“ zeigt, wie sich die Pflanzenvielfalt in Deutschland in den letzten 100 Jahren verändert hat.

In Deutschlands Pflanzenwelt hat es in den letzten einhundert Jahren deutlich mehr Verlierer als Gewinner gegeben. Während die Bestände vieler Arten geschrumpft sind, konnten einige ihre Vorkommen massiv ausweiten. Dieses paradox klingende Phänomen, muss man sich erst einmal ein oder zwei Mal durch den Kopf gehen lassen muss, bevor man dessen Tragweite versteht: Weltweit schrumpft die Artenvielfalt in alarmierendem Tempo. Doch auf lokaler Ebene können viele Studien keinen großen Verlust an Tier- und Pflanzenarten feststellen. Wie kann das sein?

Werden beispielsweise in einem Moor oder auf einem Magerrasen die speziell angepassten Überlebenskünstler von Allerweltspflanzen verdrängt, bleibt die Zahl der Arten in der Bilanz häufig gleich. Trotzdem geht damit ein Stück Vielfalt verloren, weil sich die einst sehr unterschiedliche Vegetation verschiedener Lebensräume immer ähnlicher wird. Doch wie stark ist dieser Trend in Deutschland? Um das herauszufinden, hat ein Team aus zahlreichen Forscher*innen, an dem auch zwei Forscher aus Hessen von der Universität Kassel beteiligt waren, eine erstaunliche Fülle von lokalen Studien zusammengetragen. Zahlreiche Fachleute haben dafür Daten von mehr als 7.700 Flächen zur Verfügung gestellt, deren Pflanzenbestand zwischen 1927 und 2020 mehrfach erfasst wurde. Diese bisher zum Teil unveröffentlichten Untersuchungen decken eine breite Palette an Lebensräumen ab und liefern Informationen über insgesamt fast 1.800 Pflanzenarten. Das ist etwa die Hälfte aller Bärlappe, Farne und Samenpflanzen, die in Deutschland vorkommen. Hierfür wurden Zeitreihen von wiederholten Vegetationsaufnahmen – sozusagen botanischen Volkszählungen auf einer definierten Fläche – ausgewertet, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass Pflanzen dort unbemerkt verschwinden oder neu auftauchen, sehr gering ist. Von den Kasseler Forschern wurden Zeitreihen aus dem Naturschutzgebiet Borgfelder Wümmewiesen bei Bremen sowie aus den Bergwiesen des Biosphärenreservats Rhön beigesteuert, wo der Verlust der Artenvielfalt u.a. schon am Beispiel der alten Heilpflanze Arnika belegt wurde.

Viele Verlierer, wenige Gewinner

Die Analyse der Daten zeigt bei 1.011 der untersuchten Arten einen negativen und bei 719 einen positiven Bestandstrend. Es gab in den letzten einhundert Jahren also 41 Prozent mehr Verlierer als Gewinner. Das Team stellte außerdem überraschenderweise fest, dass sich die Verluste viel gleichmäßiger verteilen. Das hat das Team mithilfe des Gini-Koeffizienten herausgefunden, mit dem man normalerweise die Verteilung von Einkommen und Eigentum analysiert. Dieser Index zeigt zum Beispiel, dass in etlichen Ländern der Erde die wenigen Reichen immer reicher und dafür viele Arme immer ärmer werden. Und einen ganz ähnlichen Trend gibt es auch in Deutschlands Pflanzenwelt: Die Verluste sind gleichmäßiger auf viele Verlierer verteilt, während sich die Gewinne auf wenige Gewinner konzentrieren.

Das stärkste Ungleichgewicht zwischen Gewinnen und Verlusten gab es der Studie zufolge zwischen Ende der 1960er Jahre und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Eingeläutet wurde dies durch die starke Intensivierung der Landnutzung. Inzwischen zeigen sich aber auch Erfolge von Naturschutzmaßnahmen, so dass sich der nach wie vor anhaltende negative Trend etwas abgeschwächt hat. Umso bedeutender ist es, dass Naturschutzbemühungen in allen Lebensräumen weiter ausgebaut, Maßnahmen vervielfältigt und Menschen für den Natur- und Artenschutz begeistert werden. Nur so lässt sich diesem beispielhaft herausgearbeiteten nationalen Trend auf regionaler und lokaler Ebene entgegenwirken.

Zur Studie

Die Studie kann in der Fachzeitschrift nature frei zugänglich gelesen werden:
Jandt U., Bruelheide H. et al. More losses than gains during one century of plant biodiversity change in Germany. Nature (2022).

Der Datensatz, der der neuen nature-Studie zugrunde liegt, wurde kürzlich in "Scientific Data" veröffentlicht und ist damit für jeden Interessierten zugänglich:
Jandt U., Bruelheide H. et al. ReSurveyGermany: Vegetation-plot time-series over the past hundred years in Germany. Scientific Data (2022).

Dr. Nils Stanik (Universität Kassel)