Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V.

Entdecken Stammbaum-Debatte: Bisherige Vogelstammbaum-Analysen verfälscht?

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Stammbaum-Debatte: Bisherige Vogelstammbaum-Analysen verfälscht?

Forschungsnews

Beruhend auf bisherigen Studien zählen die meisten Vogelarten, knapp 95% der etwa 10.000 bekannten Arten, zu den „Neoaves“. Grundsätzlich wird die Vogelevolution bzw. die Verwandtschaftsverhältnisse von Vogelarten heutzutage meist basierend auf genetischen Methoden, wie Ganzgenomsequenzierungen, erforscht. Mit fortschreitenden phylogenetischen Methoden, leistungsstärkeren Computern und immer detaillierten Studien kommt es immer wieder zu Aktualisierungen in den angenommenen Verwandtschaftsverhältnissen verschiedener Vogelgruppen. So deuten aktuelle phylogenetische Studien an, dass bestimmte gegenwärtige Entwicklungslinien der Neoaves in komplett anderen Verwandtschaftsverhältnis stehen als bislang angenommen.

Das Stammbaum-Mysterium – Wie viele Äste hat der Vogelstammbaum?

Bisher wurde vorgeschlagen, dass die Neoaves sich in zwei weitere Untergruppen unterteilen: Passarea und Columbea. Zu den Columbea gehören Tauben und Flamingos. Die verbleibenden Neoaves-Arten ordnet man den Passarea zu. Einen Stammbaum, der diese Aufteilung abbildet, kann man in der Veröffentlichung von Jarvis et al. aus dem Jahr 2014 in der Fachzeitschrift Science betrachten: Whole-genome analyses resolve early branches in the tree of life of modern birds.
Jedoch gibt es bezüglich dieser Gruppeneinteilung Unstimmigkeiten innerhalb der veröffentlichten Forschungsergebnisse. Und dies obwohl die vorgeschlagenen Stammbäume jeweils eine starke statistische Unterstützung aufweisen. So zeigen die Ergebnisse einer Studie in der Zeitschrift Nature um Josefin Stiller, dass es wahrscheinlich vier Gruppen innerhalb der Neoaves gibt. Diese sind Otidimorphae (hierzu zählen Kuckucke, Trappe und Turakos), Columbimorphae (Tauben, Flughühner und Stelzenrallen), Mirandornithes (Flamingos und Lappentaucher) und Andere. In diesem „neuen“ Stammbaum treten Tauben und Flamingos nun auch nicht mehr in derselben Gruppe auf, sondern weisen eine weiter entfernte Verwandtschaft auf.

Bessere Auflösung des Vogelstammbaums

Eine kürzlich erschiene Publikation von Wissenschaftler*innen um Siavash Mirarab mit dem Titel „A region of suppressed recombination misleads neoavianphylogenomics” (Proceedings of the National Academy of Sciences) unterstützt anstelle der bisher zwei angenommen Neoaves-Gruppen die Existenz der vier Gruppen. Die Wissenschaftler*innen analysierten hierfür einen Datensatz, der 363 Vogelgenome beinhaltete, und betrachteten die Ergebnisse und Analysemethoden, insbesondere die ausgewählten Genloki, der vorherigen phylogenetischen Studien. Außerdem geben die Autor*innen der Studie auch einen Grund für die voneinander abweichenden Stammbaum-Ergebnisse an.

Ausreißer-Region Chromosom 4

Eine Erklärung für die voneinander abweichenden Stammbaum-Annahmen ist laut Mirarab und Kolleg*innen eine besondere Stelle im Genom der Vögel. Diese spezielle Stelle macht nur etwa 2% der gesamten untersuchten Genloki aus, aber ihre Einbeziehung bzw. ihr Ausschluss in die Analysen hat starke Auswirkungen auf die Auflösung der Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Neoaves. Das spezielle an dieser „Ausreißer-Region“, die sich im Hühner Chromosom 4 bzw. homologen Chromosomen befindet, ist, dass dort scheinbar um die frühe Diversifizierung der Neoaves herum einen Zeitraum gab, in dem die Rekombination (Neuanordnung von DNA/RNA) bei mehr als einem Artbildungsereignis stark unterdrückt wurde. Dies führte dazu, dass diese Genregion stark von den erwarteten und zur Stammbaum-Rekonstruktion verwendeten Rekombinations-Raten abweicht, was zu unterschiedlichen Stammbaum-Ergebnissen führen kann. Laut der Wissenschaftler*innen könnten ähnliche Ausreißer-Regionen auch bei anderen Tiergruppen vorhanden sein und sollten bei Stammbaumanalysen beachtet werden.

Publikation: Mirarab et al. (2024): A region of suppressed recombination misleads neoavianphylogenomics” (Proceedings of the National Academy of Sciences)

Dr. Yvonne Schumm