Die Grundlagen der Ökologie erklärt anhand der Nachtfalter in einer Lichtfalle
Buchrezension zu "The Jewel Box – How moths illuminate nature's hidden rules"
Der Autor Tim Blackburn bekommt von seiner Frau eine Lichtfalle zum Fang von Nachtfaltern geschenkt und stellt sie in einer Frühsommernacht auf seiner Dachterrasse in Londoner Bezirk Camden auf. Gleich in der ersten Nacht fängt er viele Falter. Warum er gerade Falter dieser Arten und in dieser Zahl in der falle findet, gibt den Anstoß für sein Buch.
Jedes der neun Kapitel ist nach einer Art oder einer Gruppe von Nachtfaltern benannt. Die Tiere werden ausführlich beschrieben; gleichzeitig dienen sie als Aufhänger für ein bestimmtes Thema aus der Populationsökologie. Quasi induktiv schaut Blackburn vom einzelnen Falter auf das große Ganze der belebten Natur. Von der Vermehrung weniger Einzeltiere und ihrer Besiedlung eines neuen Lebensraums – die Schwammspinner, die von Medford, MA aus in den 1880er-Jahren den Nordosten der USA heimsuchten – über die Tragfähigkeit eines Biotops für eine Art über Konkurrenz durch Artgenossen, durch Tiere anderer Arten und Fressfeinde oder Parasitoide – die Lotka-Volterra-Regeln – bis hin zur Dynamik von Populationen und der entscheidenden Rolle von Migration zur Stabilisierung bestehender und der Besiedlung neuer Lebensräume spannt er den Bogen.
Mensch als Konkurrent
Dabei macht er uns beiläufig mit den Messgrößen der Ökologie bekannt: Geburten- und Sterbe-, Emigrations- und Immigrationsrate sowie den oft entscheidenden Einfluss des Zufalls. Wir erfahren über die Wichtigkeit von Zahlen und warum große Zahlen günstig sind: Viele Individuen sind für das Fortbestehen einer Art besser als wenige, größere Areale beherbergen mehr Lebensräume und eine größere Vielfalt an Arten mit mehr Individuen als kleine, viel Zeit hilft bei der Ausbildung von mehr Vielfalt. Wir lernen, warum es nur wenige große, spektakuläre Falter wie Weidenbohrer oder Pappelschwärmer gibt und warum die meisten Arten stattdessen klein und unscheinbar bleiben, dafür aber zahlreich zu finden sind.
Selbstverständlich erspart uns Blackburn nicht die Hinweise auf den oft schädlichen Einfluss des Menschen, der in direkter und noch mehr indirekter Konkurrenz auch zu den Nachtfaltern steht. Durch unser Handeln gefährden wir die Grundlagen des bestehenden Lebens auf der Erde insgesamt – auch und insbesondere unser eigenes Überleben.
Diese Mahnung mag lästig scheinen, wir lesen sie nicht nur in diesem Buch. Sie ist eine moderne Form des Cato dem Älteren zugeschriebenen Meme: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss“. Karthago wurde zerstört. Das sollten wir so verstehen, dass wir unser Leben grundsätzlich ändern müssen.
Blackburn beschreibt in klarer, lockerer Sprache anschaulich die Sachverhalte und bewegt sich schrittweise vom betrachteten Falter aus der Falle hinein in das Theoriegebäude der Wissenschaft. Wir folgen ihm dabei leicht, denn er wiederholt seine Gedanken oft und erklärt gleiche Sachverhalte häufig mit verschiedenen Worten.
In vielen Kapiteln nimmt er Bezug auf Inhalte der vorangehenden. Bei diesen Verweisen wiederholt er meistens knapp, worum es geht, so dass wir nur selten zurückblättern müssen, um unserem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Und selbst das wird uns leicht gemacht: Das ausführliche Stichwortverzeichnis leitet uns zuverlässig durch das gedruckte Buch.
Bei der Lektüre lernen wir nebenbei die englischen Namen vieler auch bei uns vorkommender Nachfalterarten. Hilfreich ist es, die Namen im Internet bei ukmoths.co.uk nachzuschlagen, denn die gerasterten Schwarz-Weiß-Abbildungen der Falter am Kapitelanfang sind weder sehr anschaulich noch zeitgemäß.
Empfehlung
Das „Schatzkästchen“ ist das beste Biologiebuch, das ich seit langem gelesen habe. Blackburn schreibt leicht verständlich und anschaulich mit vielen Beispielen. Dem Prinzip, ein Kapitel auf die jeweilige Falterarten zu konzentrieren, folgt er konsequent. Weil er aus der Ich-Perspektive erzählt, sind seine Ausführungen persönlich. Doch wahrt er stets einen Abstand zwischen Autor und Leser, zwischen Gefühl und Fakt.
Meine Frau hat mir das Buch aus London mitgebracht, wo es am 8. Juni 2023 erschien. Derzeit gibt es keine Übersetzung ins Deutsche, doch die folgt hoffentlich bald. Ein so gutes Buch sollte auch bei uns bekannt und gelesen werden.
Wer Nachtfalter bestimmen und die Funddaten zur weiteren Nutzung melden möchte, kann dies zum Beispiel bei Observationg oder über die Smartphone-App ObsIdentify tun.
Joachim Hustedt, AK Hochtaunus, AK Libellen in Hessen
Tim Blackburn: „The Jewel Box – How moths illuminate nature's hidden rules“. Weidenfeld & Nicholson, 2023, ISBN 978 1 4746 2453 4, 371 S. (20,- GBP)
www.weidenfeldandnicolson.co.uk/titles/tim-blackburn/the-jewel-box/9781474624527/, in Deutschland z. B. über www.jpc.de zu beziehen